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„Das ist doch Gottesdienst!?“

Neulich an einem Samstag: Elf Menschen haben sich zu einem Pilgertag angemeldet, den ein Evangelisches Bildungswerk anbietet. „Licht und Schatten – auf Pilgerwegen und im Leben“ lautet das Motto, Ende November zwischen Ewigkeitssonntag und Advent angesiedelt, erscheint das ein ansprechendes und dem Kirchenjahr angemessenes Thema zu sein. Und ich als Pilgerbegleiter mittendrin.

Wir stehen im Schnee, überraschender Wintereinbruch, und die Sonne strahlt verschmitzt. Begrüßung, ein paar organisatorische Punkte zu Ablauf und Sicherheit, damit auch jeder weiß, wie’s geht. Dann: Wahrnehmen, wer hier ist, wie wir da sind. Zwölf unterschiedliche Menschen voller Lust auf Pilgern, auf Natur, Gottsuche, auf dem Weg zu uns selbst. Ich präge mir die Namen der Mitpilgernden während der Vorstellungsrunde gleich ein. Mir ist ein Anliegen, die Menschen unmittelbar bei ihrem Namen ansprechen zu können. Damit sende ich auch das Signal: Ich habe Dich gesehen, Du bist mir wichtig.

Eine Teilnehmerin sagt, dass ihr ein Lied durch Kopf und Herz geht, seit sie sich zum Pilgern angemeldet hat: „Wechselnde Pfade / Schatten und Licht / alles ist Gnade / Fürchte dich nicht“. Wir singen das Lied zum Thema unseres Weges spontan miteinander. Bevor wir aufbrechen, spreche ich uns einen Wegsegen zu. Und dann geht’s los, mit „Ultreia!“. Ein altes Pilgerwort, spanisch, lateinisch – wer weiß das so genau?, jedenfalls ein Wort, das schon im Mittelalter Mut machen sollte, gerade, wenn es mal wieder anstrengend wird: „Ultreia - Immer weiter!“ So verstehen wir es und brechen auf.

Bevor wir aus der Stadt pilgern, halten wir an einer öffentlichen Toilette und am Wochenmarkt. Wenn körperliche Bedürfnisse nicht erfüllt sind, kann man sich unterwegs nur schwer den seelischen Themen widmen. Erleichtert und mit Leckereien im Rucksack erspähen wir die erste Jakobsmuschel. Wir wissen, ab hier sind wir auf einem Jakobsweg. Würden wir dem Muschelsymbol folgen, wären wir nach 2.500 Kilometern und hundert Tage später am Pilgerziel, dem Apostelgrab in Santiago de Compostela.

Eine Anregung: „Tauscht euch doch mal darüber aus, am besten mit jemanden, den ihr nicht mitgebracht habt, was gerade in eurem Leben ist: Licht? Schatten? Wie stehen die beiden im Verhältnis?“. Ein Mitpilger sucht das Gespräch mit mir. Er liebt eine Frau. Sie habe sich jedoch noch nicht für ihn entschieden. Er leidet. Ich frage ihn, ob er ihr seine Gefühle, seine Wünsche deutlich geäußert hat. Er stutzt. Nein. Er habe nicht gelernt, so zu sprechen. Und, ein paar Schritte weiter: Er habe auch nicht gelernt, für sich zu sorgen. Immer war er für andere da, er ist nicht geübt darin, sich und seine Wünsche wahrzunehmen, ernst zu nehmen, sie zu äußern. Na, das ist doch schon mal eine Erkenntnis, wir sind noch keine halbe Stunde auf dem Weg.

Später lade ich ein, in die Vergangenheit zu schauen. Wie verhielt es sich da mit Licht und Schatten? Wurde aus etwas, was zunächst wie Licht aussah, etwas Schattiges? Oder gab es Schatten, der sich als Licht entpuppte? Dieses Thema durchschreitend stapfen wir schweigend durch den Schnee. Eine Mitpilgerin kommt an ihre körperlichen Grenzen, gemeinsam helfen wir ihr, auf dem Weg zu bleiben. Sie strahlt.

Nach der Brotzeit eine dritte Dimension zum Pilgerthema: Welches Licht erwartest Du in der nahen Zukunft? Auf welchen Schatten müsstest Du Dich vielleicht einstellen? Auf helles Licht, auf kühlen Schatten bereiten wir uns im richtigen Leben doch auch vor: mit Sonnenbrille oder mit Handschuhen und Schal. Wie begegne ich dem Licht, dem Schatten, die in meiner Zukunft auf mich warten? Wie bereite ich meine Seele darauf vor? Wieder folgen angeregte Gespräche unter den Pilgernden. Über eine Chefin, die nicht wertschätzt. Darüber, dass man sich hier ein wenig fühlt wie die Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Und auch einfach über das Pilgern - eine Weggefährtin verdaut gerade ihre erste Zeit auf einem Jakobsweg in Spanien. In mir hat sie einen Gesprächspartner, der ihr helfen kann, die Erfahrungen einzusortieren.

Schließlich kommen wir am Ziel an, eine dieser katholischen Kirchen im Süden Bayerns – Pilgern ist der Weg zu einem heiligen Ort. Wir spüren, auch dieser Ort ist besonders, und durch uns als Pilgergemeinschaft wird er noch besonderer: Gemeinschaft der Glaubenden, Suchenden, Heiligen. Wir singen nochmal, wir beten. Jede und jeder bekommt eine Feder und beantwortet die Frage, was an diesem Pilgertag beflügelnd war. Manches Licht ist aufgegangen. Manche Träne wurde geweint. Wir spüren heiligen Ernst in unserer Runde und gleichzeitig herzerwärmende Freude. Am Ende: Segen. Eine Mitpilgerin flüstert mir zu „Das ist doch Gottesdienst!?“.

Warum auch nicht?

 

Michael Kaminski ist evangelischer Religionspädagoge und Beauftragter für Pilgern in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern. Zum Januar 2025 wechselt sein Einsatzort vom Gottesdienst-Institut zur "Wirkstatt evangelisch". Auch dort wird er pilgernd viele Gottesdienste feiern.